Abgestrahltes Emissionsspektrum mit Grenzwertlinien im EMV-Bericht
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08.01.2024 Fachinformation

Die Herausforderungen elektromagnetischer Verträglichkeit in einer All Electric Society

Im Zuge unserer Entwicklung hin zu einer vollelektrischen und vernetzten Gesellschaft werden Störungen durch elektromagnetische Wellen voraussichtlich deutlich zunehmen. Die aktuellen EMV-Normen müssen überarbeitet werden, um die Störungen zu reduzieren, allerdings sind sich nicht alle Beteiligten darüber einig, wie die Normen anzupassen sind. Bettina Funk, Vorsitzende von CISPR, arbeitet daran, ihnen die notwendigen Änderungen vor Augen zu führen.

Ein Artikel von Catherine Bischofberger für IEC e-tech.

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Bettina Funk ist Expertin bei SEK Svensk Elstandard, dem schwedischen IEC-Nationalkomitee, Mitglied des IEC Standardization Management Board (SMB) sowie Vorsitzende von CISPR, dem International Special Committee on Radio Interference. Sie erklärt, vor welchen großen Herausforderungen Normen zur elektromagnetischen Verträglichkeit (EMV) stehen.

Interview mit Bettina Funk

e-Tech: Können Sie uns etwas zu Ihrem Hintergrund erzählen?

Funk: Mit einem Nachnamen wie „Funk“ war meine Karriere als Rundfunktechnikerin im Grunde schon vorgezeichnet! Ich habe Elektrotechnik mit den Schwerpunkten Funk- und Kommunikationstechnik an der Universität studiert. Da schon meine Mutter Ingenieurin der Elektrotechnik war, hatte ich ein großartiges Vorbild und im Alter von 23 Jahren erhielt ich mein Diplom. Für mich war immer klar, dass ich Elektrotechnik studieren will, aber mir ist bewusst, dass das noch immer nicht selbstverständlich ist.

Ich habe dann in der Industrie gearbeitet bevor ich bei der Bundesnetzagentur in Deutschland begann, wo ich regulatorische Erfahrung sammeln konnte, auch in Verbindung mit der Internationalen Fernmeldeunion (International Telecommunicaton Union, ITU). Innerhalb der Bundesnetzagentur wechselte ich dann zur Normung für Funktechnologie und beteiligte mich an ETSI, dem Europäischen Institut für Telekommunikationsnormen.

Kolleginnen und Kollegen der schwedischen Regulierungsbehörde fragten mich, ob ich nicht Lust hätte, nach Schweden zu ziehen und für sie zu arbeiten, was ich dann auch vor acht Jahren tat. Zu meinem Aufgabenbereich gehörte die EMV-Normung, was mich dazu veranlasste, an CISPR-Treffen teilzunehmen. Bei meinem ersten Treffen fragte mich der CISPR Secretary, ob ich mir vorstellen könnte, für den CISPR-Vorsitz zu kandidieren. Er hatte von meiner Arbeit bei ETSI gehört, hatte mich bei einer früheren Veranstaltung auf europäischer Ebene getroffen und dachte, dass ich eine gute Kandidatin sein würde. Außerdem hatte ich sowohl Aufsichts- als auch Industrieerfahrung, was ideal war. Meine Vorgesetzte ermutigte mich dazu, die Position anzunehmen, ein gutes Beispiel dafür, wie Frauen andere Frauen fördern! 2018 verließ ich die schwedische Regulierungsbehörde und fing bei SEK Svensk Elstandard an, wo ich jetzt bin.

e-Tech: Wie würden Sie Ihre Rolle als CISPR-Vorsitzende beschreiben?

Funk: Im Grunde bin ich eine Vermittlerin bzw. Moderatorin, aber manchmal muss ich auch diejenige sein, die etwas durchsetzt, um Dinge zu bewegen. Wir stehen aktuell vor zahlreichen Herausforderungen, die zum Teil darauf zurückzuführen sind, wie die EMV-Arbeit in der IEC organisiert ist. CISPR und IEC/TC 77 (DKE/K 767) sind die beiden Komitees innerhalb der IEC, die sich auf die EMV-Normung konzentrieren, und der verbindliche IEC-Leitfaden 107 erklärt allen anderen IEC-Komitees, wie sie unsere Ergebnisse in ihrer Arbeit nutzen können.

Innerhalb von CISPR haben wir sechs weitgehend unabhängige Subkomitees (SCs). CISPR/A befasst sich mit Prüfverfahren und CISPR/H mit allgemeinen Grenzwerten und dem Modell zur Berechnung von Grenzwerten. Diese beiden Subkomitees machen also die horizontale Arbeit, auf die im IEC-Leitfaden 107 Bezug genommen wird. CISPR/B, D, F und I befassen sich mit bestimmten Produktgruppen bzw. Umgebungen und bauen bei ihrer Arbeit auf den Ergebnissen von CISPR/A und CISPR/H auf. Dies kann zu Konflikten führen, wenn die horizontalen Subkomitees Verfahren oder Modelle nicht schnell genug zur Verfügung stellen können oder wenn es Uneinigkeit bei der Frage gibt, ob ein neues Verfahren bzw. Modell notwendig ist und wie es verwendet werden sollte.


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Normungsgremium DKE/K 767 Elektromagnetische Verträglichkeit (EMV)

Die Aufgabe der Expertinnen und Experten von DKE/K 767 und seiner Unterkomitees besteht in der Bearbeitung von Fachgrundnormen, Grundnormen und Produkt- bzw. Produktfamiliennormen auf dem Gebiet der Elektromagnetischen Verträglichkeit (EMV). Hierbei obliegt dem DKE/K 767 im Wesentlichen die Koordinierung und die Steuerung der Aktivitäten der EMV-Gremien im Bereich Basic Functions. Die Gremien arbeiten den entsprechenden internationalen und europäischen Gremien, insbesondere CISPR und IEC/TC 77 sowie CLC/TC 210, zu.

Zum Expertengremium DKE/K 767

e-Tech: Gibt es noch weitere Herausforderungen?

Funk: Sehr viele sogar! Eine der wichtigsten besteht darin, dass wir Interessenvertreter der Industrie davon überzeugen müssen, dass wir die aktuellen Grenzwerte und Parameter für EMV anpassen müssen. Einige der aktuellen Grenzwerte wurden vor Jahrzehnten vereinbart, andere sind nicht mehr zweckdienlich angesichts unserer Entwicklung hin zu einer vollelektrischen und vor allem vollvernetzten Gesellschaft. Die elektromagnetische Umgebung hat sich im Laufe der Zeit verändert und wird sich auch in Zukunft weiter verändern. Früher gab es einfach nicht überall so viele elektrische Produkte und einige der Schutzabstände, auf denen unsere aktuellen Grenzwerte beruhen, betragen 10 Meter oder mehr, was in den 1970er Jahren angemessen war.

Um nur mal ein Beispiel für die sich verändernde elektromagnetische Umgebung zu geben: Inzwischen wird ein Dach nach dem anderen mit Solarpanelen ausgerüstet, selbst ohne Anschluss an das Stromnetz, wovon einige Wechselrichter enthalten bzw. an diese angeschlossen sind. Diese müssen eine elektromagnetische Verträglichkeit zu all den anderen elektronischen Geräten aufweisen, die sich bereits auf demselben Dach befinden, manchmal weniger als einen Meter entfernt. In den 1970er Jahren mussten wir häufig das analoge terrestrische Fernsehen schützen, während wir heute eine Vielzahl an Funkdiensten auf oder unter dem Dach haben, die ohne Leistungsbeeinträchtigung funktionieren müssen.

Viele Hersteller betrachten EMV als Zusatzkosten und sie wollen eine Überarbeitung der EMV eines bestehenden Produkts, zum Beispiel um sicherzustellen, dass neue Grenzwerte erfüllt werden, nicht finanzieren. Aus diesem Grund sehen wir in einigen Branchen eine große Zurückhaltung bei der Akzeptanz neuer Normungsvorhaben, die zu niedrigeren Emissionsgrenzwerten in EMV-Normen führen könnten. Wir müssen jedoch einen Kompromiss finden, denn anderenfalls werden Regulierungsbehörden unsere Normen nicht mehr verwenden bzw. darauf verweisen.

Wir konnten in den letzten vier Jahren keine Aktualisierungen unserer wichtigsten Normen veröffentlichen, weil sie in der letzten Entwurfsfassung abgelehnt wurden. Das passiert häufig, da die Gruppen, die an den Normen arbeiten, Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip treffen, statt nach Kompromissen zu suchen. Es gibt keine Vertreterinnen bzw. Vertreter von Regulierungsbehörden oder Frequenznutzern in den Arbeitsgruppen und Maintenance Teams, die für Aktualisierungen zuständig sind, was an finanziellen Gründen liegen kann oder an einer unterschiedlichen Einstellung zur Normung. Einige Frequenznutzer gehen einfach davon aus, dass die Frequenz sauber gehalten wird, da sie Lizenzgebühren für ihre Nutzung zahlen, weshalb sie keine Notwendigkeit sehen, sich mit der EMV-Normung zu befassen.

Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass elektromagnetische Störungen schwer zuzuordnen sind, da sie von so vielen verschiedenen Geräten verursacht werden können, was einige Hersteller ausnutzen.

e-Tech: Was sind die Unterschiede zwischen der CISPR-Arbeit und IEC/TC 77, das sie angesprochen haben?

Funk: Wir müssen eine Reise in die Vergangenheit unternehmen, um zu verstehen, woher die beiden kommen. CISPR wurde in den frühen 1930ern gegründet, lange vor IEC/TC 77. In den 1930ern ging die Elektrifizierung in schnellen Schritten voran und Straßenbahnen entwickelten sich in Städten zu einem viel genutzten Verkehrsmittel. Damals waren Radios die großen Rundfunkgeräte und die Menschen stellten fest, dass Dinge plötzlich nicht zusammen funktionierten. Man konnte kein Radio hören, weil die Straßenbahn vorbeifuhr. Da begannen wir, uns mit EM-Emissionen zu beschäftigen.

Es gibt zwei große Bereiche für die EMV-Arbeit: Emissionen, also das Produkt, das elektromagnetische Wellen aussendet, und Immunität, also die Fähigkeit eines Produkts auch dann zu funktionieren, wenn in seiner Umgebung elektromagnetische Wellen vorhanden sind. Emissionen können über Kabel transportiert oder abgestrahlt werden. Als IEC/TC 77 innerhalb von IEC eingerichtet wurde, beschäftigte es sich hauptsächlich mit der Immunität von Dingen und Netzstörungen, also kabelgebundenen Emissionen. CISPR kam später zur IEC hinzu und beschäftigt sich hauptsächlich mit den Emissionsaspekten.

Wie immer ist die Realität etwas komplexer als diese vereinfachte Beschreibung, aber IEC/TC 77 und CISPR arbeiten eng zusammen und werden dies zunehmend tun müssen, insbesondere angesichts der Zunahme netzunabhängiger Elektrifizierung.


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e-Tech: Was wird der Fokus der CISPR-Arbeit mit Blick auf die Zukunft sein?

Funk: Der Fokus unserer horizontalen Subkomitees wird auf der Anpassung der Prüfverfahren und des Modells zur Berechnung von Störungen liegen. Die Prüfverfahren zur Prüfung von Frequenzen bis zu und über 40 GHz müssen von CISPR/A entwickelt werden, da Funkdienste in höheren Frequenzbereichen eingeführt werden. CISPR/H arbeitet mit ITU-R zusammen, um Input zu den neuesten Funkdiensten zu erhalten, damit ihre Parameter im Modell zur Berechnung von Störungen genutzt werden können.

Einer der wichtigsten Bereiche auf Produktseite wird die drahtlose Energieübertragung (en: wireless power transfer, WPT) sein. CISPR konnte bisher noch keinen Konsens mit den Frequenznutzern hinsichtlich der Grenzwerte für WPT-Technologien erzielen, aber andere Technische Komitees der IEC haben WPT bereits in ihre Normen aufgenommen.

Wir müssen sicherstellen, dass IEC-Veröffentlichungen konsistent sind und dass die in den Normen aufgeführten Grenzwerte Funkdienste schützen, denn in vielen Teilen der Erde haben Funknutzer im Funkfrequenzbereich Priorität gegenüber elektrischen Systemen. Die Wahrscheinlichkeit, dass WPT Funkdienste stört, ist sehr hoch, da es schwierig ist, elektrische Energie in einer drahtlosen Umgebung zu transportieren, ohne dass Energie in die Aussendung gelangt. Auch Elektrofahrzeuge sind allgemein ein ganz wichtiges Thema. Deshalb müssen wir die EMV-Normen für Fahrzeuge anpassen und neue spezifische Parameter für Elektrofahrzeuge aufnehmen.

Und noch wissen wir nicht einmal, welche neuen Funksysteme und Elektroprodukte uns in Zukunft erwarten. Wir sind uns nur sicher, dass es immer mehr für uns zu tun geben wird, da sich die Gesetze der Physik nicht ändern lassen!


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