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30.01.2024 Fachinformation

Marathon Sektorenkopplung: Datenströme überwinden Sektoren- und Domänengrenzen in der All Electric Society

Mit der Energiewende und der damit rasant zunehmenden Anzahl an Erzeugungs- und Verbraucheranlagen steigt der technische und administrative Aufwand in der Entwicklung hin zu einer All Electric Society. Notwendig ist deshalb ein vollständig integriertes, vernetztes und intelligentes sowie teilautomatisiertes Gesamtenergiesystem. Es muss künftig alle Datenströme der energieverbrauchenden, -erzeugenden und -speichernden Technologien zusammenführen.

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Johannes Stein
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Die Anzahl von Erzeugungs- und Verbraucheranlagen explodieren und stellen die Netzstabilität auf die Probe. Im Jahr 1990 mussten die vier großen Übertragungsnetz- und die rund 900 Verteilnetzbetreiber nur 120.000 Stromerzeugungsanlagen steuern. Da sich der Zubau mit Erneuerbaren seither beschleunigt, müssen die Netzbetreiber bald viele Millionen Anlagen in ihr Netzmanagement integrieren.

Mitte 2023 waren bereits 350.000 Wärmepumpen, rund eine Millionen Wallboxen und fast 100.000 öffentliche Ladepunkte im Betrieb. Anfang 2023 waren zudem eine Million batterieelektrische Pkw im Bestand und im Jahresverlauf kamen weitere 524.000 neue E-Autos neu dazu. 2024 dürften über drei Millionen PV-Anlagen am Netz angeschlossen sein.Die vermutlich rund 300.000 Balkon-PV-Anlagen sind hier noch nicht enthalten. Die Gesamtzahl der Windkraftanlagen in Deutschland lag Ende 2022 bei über 30.000. Im Rekordjahr 2023 wurden daher in Deutschland bereits 55 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugt, teilte die Bundesnetzagentur (BNetzA) mit. Damit wird das Management zur Sicherstellung von Versorgungssicherheit und Netzstabilität der elektrischen Energiesysteme immer herausfordernder. 

An vielen Stellen wird in Projekten an Datenräumen, Verwaltungsschale oder dem Digitalen Produktpass geforscht. Die Normung stellt hierbei eine Schlüsselfunktion dar. VDE und DKE arbeiten mit Partnern aus Verbänden und Forschungsinstituten an Projekten, die die informationstechnische Sektorenkopplung ermöglichen. Auf einer Fachtagung „DKE Zukunftswerkstatt Sektorenkopplung – Anwendungen und Datenaustausch“ in Berlin im März 2024 werden aktuelle Pilotprojekte, Lösungen und Studien präsentiert und diskutiert.


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Treffen Sie uns bei der DKE Zukunftswerkstatt Sektorenkopplung!

Nur wenn alle Bereiche von Industrie und Gesellschaft kooperieren und Daten zwischen den Sektoren frei fließen, kann die Vision realisiert werden und das Potential der CO2-freien All Electric Society vollständig ausgeschöpft werden. Am 19. und 20. März 2024 in Berlin treffen sich dazu führenden Expertinnen und Experten aus Industrie, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Normung um gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Seien Sie dabei.

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Notwendiger Redispatch kommt Verbrauchern teuer zu stehen: 2022 über 4 Milliarden Euro

Ohne neue Technologien wie die Sektorenkopplung, künstliche Intelligenz, aktualisierte Normen und Standards sowie autonome Prozesse wird für die Netzbetreiber die Steuerung des Netzes immer schwieriger, um über die Strom- und Regelenergiemärkte Angebot und Nachfrage jederzeit in der Waage zu halten oder Netzengpässe zu vermeiden. Vor allem müssen sie dabei auch die Kosten für das Netzanpassungsmanagement (Redispatch) im Griff behalten, die in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen sind und die Netzentgelte in die Höhe getrieben haben.

Denn wenn Wind- und Solaranlagen mehr Strom erzeugen, als gebraucht wird, werden Anlagen abgeschaltet. Oder es entsteht ein negativer Strompreis wie an Weihnachten 2023 über mehrere Tage. Umgekehrt werden bei Dunkelflaute teure fossile Kraftwerke zugeschaltet. Die Investoren abgeschalteter Anlagen erhalten eine Ausgleichszahlung, die fossilen Kraftwerkseigner Vorhaltepauschalen. Die Kosten dafür werden über die Netzentgelte umgelegt. Dieses Management von Überlastausgleich und Engpassbehebung kostete 2022 die bisherige Rekordsumme von 4,2 Milliarden Euro; im 1. Quartal 2023 waren es bereits 1,1 Milliarden Euro.

Steuerbare Lasten im automatisierten und flexibilisierten Gesamtenergiesystem mit Erzeugern, Speichern und Verbrauchern als nächster Schritt unvermeidbar

Für eine Glättung der Lastspitzen bei Angebot und Nachfrage müssen Geräte und Anlagen über die Sektorengrenzen hinweg auf allen Ebenen steuerbar sein, um das Gesamtenergiesystem in der All Electric Society optimal zu nutzen. Durch dieses System wird erzeugte Energie dynamisch an den Stellen eingesetzt, wo sie gerade benötigt wird, und bei Nichtbedarf auf vielfältige Weise zwischengespeichert, um später bedarfsgerecht genutzt zu werden.

Dies führt zu erheblichen Effizienzsteigerungen und Energieeinsparungen. Damit trägt die Flexibilität der steuerbaren Verbraucher, Speicher oder auch anderer Stromerzeuger im Gesamtenergiesystemtragen zur Ausbalancierung der Netze und zur effizienten Nutzung volatiler regenerativer Energie bei. So werden auch lokale Energieerzeugung, Elektrolyseure zur Wasserstofferzeugung sowie stationäre und mobile Energiespeicher das Flexibilitätsmanagement ergänzen. 

Vom Energiemanagement eines Marathonläufers lernen

Die informationstechnische Sektorenkopplung ist vergleichbar mit einem Marathonläufer, der sich auf ein Rennen vorbereitet. Der Körper des Läufers repräsentiert das Gesamtenergiesystem, und die verschiedenen Muskeln und Organe stehen für die verschiedenen Sektoren wie Strom, Wärme und Verkehr. So wie der Körper des Läufers Energie aus der Nahrung aufnimmt und diese effizient an die Muskeln weiterleitet, um eine optimale Leistung zu erzielen, sorgt die Sektorenkopplung dafür, dass Energie aus erneuerbaren Quellen effizient zwischen den Sektoren verteilt wird.

Während des Marathons muss der Körper des Läufers sicherstellen, dass die Energie priorisiert und genau dorthin geleitet wird, wo sie benötigt wird – sei es zur Aufrechterhaltung des Lauftempos oder zur Beschleunigung in kritischen Rennphasen. Dafür zieht das „Energiemanagement“ des Körpers Blut von weniger dringenden Funktionen wie der Verdauung, der Nieren und dem Immunsystem ab, um die Muskulatur besser zu versorgen. 

Vernetzung aller Datenströme von Millionen Geräten und Systemen durch Datenmodelle, Semantiken und Kommunikationsschnittstellen

Wie das Energiemanagement des menschlichen Körpers soll die informationstechnische Sektorenkopplung durch den Einsatz von Datenmodellen, einer gemeinsamen (Fach-)Sprache, neuen Dateninfrastrukturen sowie Kommunikationsschnittstellen dafür sorgen, dass Energie dynamisch und bedarfsgerecht zwischen den Sektoren gesteuert, verteilt und abgerechnet wird. Dies geschieht durch die Vernetzung aller Datenströme von Millionen Geräten und Systemen, von kleinen Photovoltaikanlagen über Speicher, Elektrolyseure bis hin zu großen Kraftwerken. Ausgehend von lokalen Optimierungs- und Flexibilisierungsmöglichkeiten durch ein Energiemanagement in Gebäuden und an Industriestandorten sorgt eine intelligente Kopplung der verschiedenen Energieformen wie Elektrizität, Wasserstoff und seiner Derivate, Wärme sowie Kälte dafür, dass überall die geforderte Energie bereitsteht. Überschüssige Energie wird gespeichert und wieder ausgespeichert, wenn der lokale Bedarf dies erfordert.

Neben dem notwendigen Ausgleich von Stromerzeugung und -verbrauch muss das Netzmanagement auch Engpässe in den elektrischen Stromnetzen managen. Netzbetreiber können zu diesem Zweck zunehmend Anlagen netzdienlich steuern. Alle Verbraucher der bisher eher getrennt betrachteten Sektoren werden so idealerweise optimal versorgt. Eine Digitalisierung der Datenströme parallel zu den Energieflüssen durch eine informationstechnische Sektorenkopplung ist dafür die wesentliche Voraussetzung. Vorhandene Kommunikationstechnologie, aber auch neue Konzepte einer Dateninfrastruktur wie Datenräume, Digitale Zwillinge, die Verwaltungsschale der Industrie 4.0 oder der Digitale Produktpass bieten hierfür interessante Ansätze, die grundlegend in einer von der DKE initiierten Studie durch VDI/VDE Innovation + Technik GmbH untersucht und auf der „DKE Zukunftswerkstatt“ vorgestellt werden.


Lesen Sie dazu die ausführlichen Fachinformationen


Verwaltungsschale und digitaler Produktpass mit genormter Sprache und Schnittstellen

Die Verwaltungsschale (VWS), auch als „Asset Administration Shell“ (AAS) bezeichnet, ist ein herstellerübergreifender und branchenneutraler Standard für die Bereitstellung von Informationen und für die Kommunikation in einheitlicher Sprache (Semantik). Sie dient als digitaler Repräsentant und wird quasi zum Digitalen Zwilling aller denkbaren Anlagen, Maschinen bis hin zu Geräten und Materialien. Jedes „Ding“ im „Internet der Dinge“ (IoT) erhält eine eigene Verwaltungsschale, die Informationen über Eigenschaften und Fähigkeiten oder auch geltende Normen und Standards des Produktes bereitstellt. Diese Informationsbereitstellung kann über den bereits in der EU gesetzlich geforderten und nun durch Normen zu definierenden Digitalen Produktpass (DPP) erfolgen. Die Verwaltungsschale enthält zudem genormte Schnittstellen zu OPC UA oder REST sowie zur Informations- und Datensicherheit entsprechende Authentifizierungs- und Autorisierungsmechanismen, über die die „Dinge“ miteinander kommunizieren.

Verteilte Dateninfrastruktur ermöglichen neue Wertschöpfungsketten im Energiesystem

Über eine verteilte Dateninfrastruktur ließen sich Daten wie eingespeister oder bezogener Energie steuern, bilanzieren und automatisch abrechnen oder Netzüberlasten erkennen und aussteuern. Beispielsweise könnten Besitzer von Anlagen Zeiträume definieren, zu denen die Netzbetreiber ihre Speicher, Anlagen und Haustechnik netzdienlich regeln dürfen. Die Verwaltungsschale könnte also eine semantische Interoperabilität und wertschöpfungsübergreifende Schnittstelle aller Assets gewährleisten.

Use Case: Digitaler Netzanschluss ermöglicht automatisierte Antragstellung

Aktuell arbeiten viele Forschungsinstitute und Verbände intensiv an ersten Pilotprojekten und Studien, begleitet von den Normungs- und Standardisierungsgremien im VDE (DKE und FNN), um die neuen Dateninfrastrukturen wie Datenräume, VWS und den DPP in Praxisanwendungen zu implementieren und an die digitalen Erfordernisse des sich immer schneller wandelnden Gesamtenergiesystem anzupassen. Beispielsweise sei das neue Projekt „energy data-x“ genannt. 

Ein erster regulatorischer Use Case hat, durch das Erneuerbaren-Energien-Gesetz (EEG) und die Niederspannungsanschluss-Verordnung (NAV), die Dringlichkeit einer neuen Lösung für die Netzbetreiber erhöht. Besonders relevant ist das für Ladeeinrichtungen von Elektrofahrzeugen. Seit Januar 2024 müssen sie ihren Kunden nach §6 und §19 NAV eine webbasierte Antragstellung für Netzanschlüsse von Verbrauchsanlagen bieten. Ab Januar 2025 müssen dann auch die Netzanschlussanträge für Erzeugungsanlagen bis 30 kW installierter Leistung nach §8 EEG über ein Webportal digitalisiert und vereinheitlicht möglich sein. Für die nunmehr digitalen Anmeldeprozesse könnten die neuen Dateninfrastrukturen hilfreich sein. VDE FNN bereitet dafür zurzeit zusammen mit dem BDEW (Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft) in Abstimmung mit der BNetzA und dem Bundeswirtschaftsministerium eine einheitliche, digitale Lösung für die Beantragung von Netzanschlüssen für Erzeugungsanlagen unter 30 Kilowatt vor. 
 

Aufwand reduzieren, Fehler vermeiden und Inbetriebnahme beschleunigen

Bisher müssen Anlagendaten manuell erfasst und die Anträge schriftlich angemeldet werden. Aber nicht einmal, sondern mehrfach, je nach Anlagentyp und Rolle der Akteure: beim Marktdatenstammregister der BNetzA, beim Netzbetreiber, dem Energielieferanten, gegebenenfalls bei einem Aggregator für die Selbstvermarktung sowie bei den Fördermittelgebern. Daten müssen hierfür mehrfach manuell bearbeitet oder für die jeweiligen Datensysteme aufbereitet werden. Das bedeutet einen erheblichen Aufwand, ist fehleranfällig und zeitaufwendig. Um wie viel einfacher wäre es, wenn mit Datenräumen, VWS und DPP eine automatische Anmeldung quasi „Plug & Play“ möglich wäre?
 

Automatisierte Registrierung und Verwaltung von Photovoltaikanlagen im Energiesystem bereits möglich

Genau das erforscht aktuell in einem Pilotprojekt das Institut für Automatisierungstechnik (IFAT) an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg unter der Leitung von Professor Christian Diedrich im Pilotprojekt „ DPP4.0 und Anmeldung einer PV-Anlage“ aufbauend auf dem Projekt „Verwaltungsschale vernetzt“. Auf Anregung der DKE entwickelt das Team einen kleinen Demonstrator, in dem sie auf Basis der VWS Digitale Produktpässe der Komponenten einer PV-Anlage prototypisch erstellen und zu einem Digitalen Produktpass der PV-Anlage kombinieren (DPP4.0 genannt). Mit dem DPP4.0 der PV-Anlage können dann verschiedene Use Case unter Einbindung der unterschiedlichen beteiligten Rollen für eine medienbruchfreie Registrierung und spätere Verwaltung von PV-Anlagen exemplarisch umgesetzt werden, wie die untenstehende Illustration verdeutlicht. 

Über eine App würden sich beispielweise der Eigentümer der Anlage und andere beteiligte Rollen im Registrierungsprozess anmelden und relevante Daten und Genehmigungen eintragen. Erste Projektergebnisse stellt Professor Diedrich im März auf der „DKE Zukunftswerkstatt“ vor. In weiteren Iterationen ist vorstellbar, dass auch die Anlagenkonformität mit den einschlägigen Technischen Anwendungsregeln und auch eine netzdienliche Regelung über den DPP bzw. die AAS (teil-)automatisiert abgewickelt werden.

Bild2_IT Sektorenkopplung

Konzept für eine (teil-)automatisierte Anmeldung von Wallboxen oder PV-Anlagen mittels Digitalem Produktpass auf der Basis des Verwaltungsschalen-Konzepts (DPP4.0)

| DKE

Fazit: Startschuss für Marathon der Sektorenkopplung bereits gefallen und Etappen erreicht

Die technischen Grundlagen und Konzepte für den sektorübergreifenden Austausch von Daten und Energie sind also nicht nur konzeptionell vorhanden. Auch Lösungsansätze für die Organisation der Energiesysteme und die Integration von Anlagen, Geräten und Akteuren sind ausgearbeitet und getestet. Neue Dateninfrastrukturen zeigen ihre Leistungsfähigkeit in ersten industriellen Anwendungsfällen und sind auf die Energiesysteme und die Sektorenkopplung übertragbar. Der Weg wird weiter geebnet durch viele Projekte von Forschung und Industrie, erste regulatorische Rahmen der Politik sowie die wachsende Bereitschaft aller Akteure im Energiesystem zur Digitalisierung. Der Startschuss für die informationstechnische Sektorenkopplung ist somit gefallen. Wie bei einem Marathon besteht die anstehende Herausforderung nun darin, dass alle Akteure ihre Umsetzungsenergien auf der Strecke nutzen, um gemeinsam das Ziel der All Electric Society – einer dekarbonisierten und elektrifizierten Gesellschaft – zu erreichen.


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