Crash-Tesh-Dummy im Auto mit Airbag getroffen
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06.11.2023 Fachinformation

Warum es geschlechtergerechte Normen braucht

IEC und ISO arbeiten daran, ihre Normen geschlechtergerechter zu machen.

Sonya Bird ist Director of International Standards bei UL Standards & Engagement in den USA und Gründungsmitglied der Joint Strategic Advisory Group für gendergerechte Normen (JSAG-GRS).

Sie spricht mit IEC e-Tech über die Rolle geschlechtsspezifischer Faktoren bei der Normung und den Herausforderungen, auf die sie bei ihren Bemühungen, diese Botschaft den Expert*innen zu vermitteln, gestoßen ist.

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Alena Widder
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Interview mit Sonya Bird

e-Tech: Warum ist es wichtig, dass Technische Komitees das Geschlecht berücksichtigen, wenn sie Normen vorbereiten?

Bird: Normen müssen alle Geschlechter berücksichtigen, um die Sicherheit der Nutzerinnen und Nutzer wirksam zu verbessern. Geschlechtergerechte Normen berücksichtigen, wie das Geschlecht die technischen Anforderungen und die Anwendung von Normen beeinflusst. Diese Überlegungen können von physischen und physiologischen Unterschieden wie Griffstärke, physischen Abmessungen, Hautdicke und Körperfettanteil reichen. Geschlechterrollen sowie soziale und kulturelle Aspekte können ebenfalls Auswirkungen auf die Normung haben, je nachdem wie sie angewandt werden.

e-Tech: Spielt die Erfüllung von SDG 5 hierbei eine Rolle?

Bird: Definitiv! IEC und ISO haben sich dazu verpflichtet, durch entsprechende Normen dazu beizutragen, die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erfüllen, und die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte bei der Entwicklung von Normen kann zur Erfüllung von SDG 5 beitragen. Indem sie sicherstellen, dass Normen gendergerecht sind, können ISO und IEC Geschlechtergerechtigkeit und die Selbstbestimmung aller Frauen und Mädchen durch die Normung fördern.

e-Tech: Können Sie ein paar konkrete Beispiele dafür geben, wie sich Normen in der Elektrotechnologie unterschiedlich auf Männer und Frauen auswirken?

Bird: Die Bewertung der geschlechtsspezifischen Auswirkungen wird für alle elektrotechnischen Normen, die Interaktionen mit Menschen beinhalten, nachdrücklich empfohlen. Es gibt verschiedene Beispiele dafür, wie Normen das Geschlecht beim Normenentwicklungsprozess berücksichtigt bzw. nicht berücksichtigt haben. Das Bewusstsein für geschlechtergerechte Normen wächst in der technischen Community und wir werden diese Beispiele weiter sammeln und teilen.

Nehmen wir einmal IEC TS 62996 und IEC TS 62997 als Beispiele. Bei der Erarbeitung hat das Komitee industrielle Elektrowärmeanlagen und Anlagen für elektromagnetische Bearbeitungsprozesse und die Interaktion zwischen externen Einflüssen wie magnetischen Felden und Strömen im menschlichen Körper mittels Computersimulation und anderer Verfahren untersucht. Das Technische Komitee untersuchte die Interaktion zwischen Mensch und Technologie und es ist notwendig, sich bei der Untersuchung, wie Ströme den menschlichen Körper beeinflussen, geschlechtsspezifische Unterschiede anzusehen.

Ein weiteres Beispiel ist die erste Ausgabe von IEC 62209-3, die ein neues Messverfahren für die Beurteilung der spezifischen Absorptionsrate (SAR) bei der Exposition von Personen gegenüber hochfrequenten Feldern von schnurlosen Kommunikationsgeräten festlegt. Sie enthält Spezifikationen für schnelle SAR-Messsysteme, die eine Vektorsondenanordnung nutzen. Dieses System bestimmt das dreidimensionale EM-Feld, indem es einen dreidimensionalen Rekonstruktionsalgorithmus in einem Phantom nutzt, einer Art Testpuppe bzw. physisches Modell des menschlichen Körpers. IEC/TC 106 (DKE/K 764) veröffentlicht die Norm und verwendet weibliche und männliche Dummies für die Tests.

e-Tech: Die JSAG hat vor kurzem eine weitere Umfrage an die Expert*innen der Technischen Komitees sowohl bei IEC also auch ISO geschickt – warum?

Bird: Die Umfrage wurde entwickelt, um mit der technischen Community zum Thema gendergerechte Normen ins Gespräch zu kommen. Sie bietet Expertinnen und Experten von IEC und ISO die Möglichkeit, Input zur Nützlichkeit des Leitfadens zu liefern und Fallbeispiele dazu zu teilen, wie das Geschlecht in Normen zu Produkten, Prozessen, Dienstleitungen und Managementsystemen berücksichtigt wurde.

Die vor kurzem an die Expert*innen gesandte Umfrage war eine Weiterführung der Umfrage, die die JSAG 2020 verteilte. Einige Fragen waren so ausgelegt, dass ähnliche Daten erhoben werden, sodass wir den Fortschritt bei der Entwicklung gendergerechter Normen nachverfolgen und die technische Community von ISO und IEC weiter dafür sensibilisieren können.


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e-Tech: Zu welchen Ergebnissen kamen Sie?

Bird: Die Umfrage enthielt Fragen zur Nützlichkeit des Leitfadens zu geschlechtergerechten Normen (en: gender responsive standards, GRS) und den GRS-Bewertungsbogen, zu den Herausforderungen, die die Berücksichtigung des Geschlechts für die Technischen Komitees darstellt, und sammelte Beispiele dafür, wenn geschlechtsspezifische Aspekte bei der Entwicklung von Normen berücksichtigt wurden.

Wir haben wertvolle Informationen durch die Umfrage erhalten, um zu beurteilen, wo Fortschritte erzielt wurden und in welchen Bereichen wir uns noch verbessern können, während wir die technischen Fachleute weiter dabei unterstützen, geschlechtergerechte Normen zu entwickeln.

e-Tech: Gibt es eine Verbesserung verglichen mit der letzten Umfrage von vor ein paar Jahren?

Bird: Nachdem die Umfrage 2020 verteilt wurde, zeigten die Ergebnisse, dass mehr Aufklärung und Sensibilisierung für die Wichtigkeit geschlechtergerechter Normen notwendig sind.

Seit der ersten Umfrage sehen wir, dass das Bewusstsein der Expert*innen hinsichtlich der Existenz des Leitfadens zur Entwicklung geschlechtergerechter Normen zugenommen hat und wir haben Informationen zu Anwendungsfällen gesammelt, bei denen geschlechtsspezifische Aspekte im Normungsprozess berücksichtigt wurden.

e-Tech: Welche Herausforderungen sind zu meistern, damit die Zahl geschlechtergerechter Normen zunimmt?

Bird: Wir arbeiten daran, bei der technischen Community der IEC und ISO das Bewusstsein dafür, wie wichtig die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte bei der Entwicklung von Normen ist, zu stärken. Die verfügbaren Instrumente, wie der Leitfaden zu gendergerechten Normen, der Bewertungsbogen und Schulungsmodule können den Expert*innen von ISO und IEC helfen, die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte in den Normungsprozess zu integrieren.

Eine weitere Herausforderung für die Entwicklung geschlechtergerechter Normen auf breiter Ebene ist die Verfügbarkeit von nach Geschlechtern getrennt erfasster Daten. Daten sind wesentlich für die Erarbeitung von Normen, aber sie können verzerrt sein bzw. es kann sein, dass die Daten die Geschlechter nicht gleichermaßen repräsentieren. Die Verwendung von nach Geschlechtern getrennt erfassten Daten kann dabei helfen, sicherzustellen, dass Frauen von Normen repräsentiert und geschützt werden. Um bestmögliche Normen zu entwickeln, ist es für die technischen Komitees wichtig, eine etwaige Unausgewogenheit bei den verwendeten Daten zu verstehen und sicherzustellen, dass die Daten repräsentativ für die Bevölkerung sind.


diverse Frauengruppe von leitenden Angestellten in einem globalen Unternehmen
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Förderung von Gleichstellung an der Spitze

Veronica Lancaster engagiert sich in zwei Technischen Komitees der IEC als Expertin. Sie ist im Vorstand von ANSI, Vizepräsidentin des Bereichs Normung der CTA, Präsidentin des US-Nationalkomitees der IEC und Mitglied des IEC-Vorstands. Darüber hinaus ist sie Präsidentin des Verwaltungsrats der Organisation „Women in Standards“.

Mit IEC e-tech sprach sie über ihre verschiedenen Aufgaben und auch darüber, warum es notwendig ist, andere Frauen im Technologiebereich zu unterstützen.

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e-Tech: Was sagen Sie zu Expert*innen, die behaupten, dass es in der Elektrotechnologie keine geschlechtsspezifischen Unterschiede gibt?

Bird: Bei jeder Norm, die sich direkt oder indirekt auf Produkte oder Anlagen bezieht, die von Menschen genutzt werden, ist es wichtig, potenzielle geschlechtsspezifische Implikationen zu berücksichtigen. Geschlechtsspezifische Implikationen sind bei elektrotechnischen Normen allerdings nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich.

Sämtliche Personen, die an der Entwicklung von Normen beteiligt sind, spielen eine wichtige Rolle dabei, sicherzustellen, dass geschlechtergerechte Normen entwickelt werden. Um das Bewusstsein für geschlechtsspezifische Unterschiede zu schärfen, entwickeln wir gerade Fallstudien im Rahmen eines Toolkits für Expert*innen mit Beispielen dafür, inwiefern bestimmte Normen geschlechtergerecht sind.

e-Tech: Was sind die nächsten Schritte für die JSAG?

Bird: Wir klären die technische Community von ISO und IEC weiter über den Wert geschlechtergerechter Normen auf und entwickeln Instrumente, die ihnen dabei helfen, geschlechtsspezifische Aspekte bei der Normungsarbeit zu berücksichtigen.

Die JSAG erstellt einen Abschlussbericht, der Anfang 2024 fertig sein soll und Empfehlungen zur Fortsetzung der Arbeit zur Entwicklung gendergerechter Normen enthält. Wir hoffen, dass zunehmend geschlechtergerechte Normen entwickelt werden und ermutigen alle Expertinnen und Experten, sich bei Fragen an uns zu wenden.


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