Steinküste mit Wellenhintergrund
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29.06.2022 Fachinformation

Meeresenergie: Die unerschlossene Energiequelle

Mehr als 70 Prozent der Erdoberfläche werden von den sieben Weltmeeren bedeckt. Das Wasser ist ständig in Bewegung und entwickelt dabei enorme Kräfte. Meeresenergie, ausgelöst durch die Gravitation, könnte einen wichtigen Beitrag zur Energieversorgung leisten, denn die Wellen und Gezeiten des Meeres können große Generatoren antreiben.

International arbeiten Forschende an verschiedenen Technologien. Fast immer auf dem Spielfeld: Institute, Energieversorger und Unternehmen aus Deutschland sowie die Normenreihe IEC 62600.

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Alexander Nollau
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Was ist Meeresenergie und woher kommt sie?

Meereswellen mit einem klaren Himmelhintergrund
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Durch die Gravitation, also die Anziehungskräfte von Erde, Mond und Sonne, entstehen an den Küsten der Meere die Gezeiten. Vom Mond wirken die stärksten Kräfte. In einem Mondzyklus von 24 Stunden und 49 Minuten gibt es zweimal Hoch- und zweimal Niedrigwasser, weshalb sich die Zyklen immer an verschiedenen Tageszeiten ereignen.

Bei Niedrigwasser strömt das Wasser von der Küste weg, was als Ebbe bezeichnet wird. Bei einer Flut fließt das Wasser mit enormer Kraft wieder an die Küsten – sowohl bei Vollmond als auch bei Neumond fällt diese Wasserbewegung besonders stark aus.

Abhängig von der Meerestiefe und den Küstenformationen kommt es zu einem unterschiedlich starken Tidenhub, also besonders ausgeprägten Hebungen und Senkungen der Wassermassen. Je ausgeprägter ein Tidenhub an der Küste, desto besser lassen sich die Kräfte des steigenden und fallenden Wassers nutzen. Bei jeder Passage im Ebbe-Flut-Zyklus kann das Wasser durch Bauwerke oder Schwimmkörper geleitet werden, um mit dieser Kraft Generatoren anzutreiben und Strom zu erzeugen.

Allerdings sind die geographischen Bedingungen für die Nutzung von Meeresenergie an den Küsten nicht überall gleich. Deshalb liegt die Energiegewinnung aus der Kraft des Meeres noch weit hinter der Energiegewinnung aus Windkraft.


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Wie funktioniert Meeresenergie?

Das Potenzial der Meeresenergie ist unvorstellbar hoch. Die Internationale Energie Agentur (IEA) beziffert dieses Potenzial auf bis zu 80.000 Terawattstunden pro Jahr. Das europäische Netzwerk Ocean Energy Europe prognostiziert sogar, dass bis 2050 rund zehn Prozent des derzeitigen Strombedarfs in Europa durch Meeresenergie gedeckt werden könnte. In dieser neuen Industrie sollen bis zu 400.000 Arbeitsplätze entstehen.

Aktuell forschen Unternehmen und Wissenschaftler*innen an verschiedenen Technologien.

Luftaufnahme des Staudamms am Gezeitenkraftwerk La Rance in Frankreich
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Gezeitenkraftwerk – Energie durch Tidenhub des Meeres

Ein Kraftwerk mit Tidenhubtechnologie funktioniert ähnlich wie ein Wasserkraftwerk an Land. Es nutzt den Höhenunterschied des Meeres bei Ebbe und Flut. Gezeitenkraftwerke wurden in der Vergangenheit vor allem in Form eines Staudamms in der Nähe einer Meeresbucht realisiert. Wasserturbinen arbeiten dabei in beide Richtungen und erzeugt auf diese Weise Energie: bei Flut strömt das Wasser ein und bei Ebbe strömt das Wasser wieder aus. Aufgrund ökologischer Auswirkungen und begrenzt vorhandener geographischer Baumöglichkeiten kommt dieses Bauprinzip zunehmend weniger zum Einsatz.

Das größte europäische Gezeitenkraftwerk steht bei Saint-Malo in der Bretagne in der Flussmündung der Rance in den Atlantik. Der Tidenhub beträgt sieben bis acht Meter. In diesem 750 Meter langen Bauwerk produzieren 24 Turbinen, die jeweils einen zehn Megawatt Generator antreiben, eine Spitzenleistung von 240 Megawatt. Es ist seit mehr als 50 Jahren in Betrieb.

Als größtes Gezeitenkraftwerk der Welt wurde es durch die Inbetriebnahme der Anlage „Sihwa-ho“ 2011 in Südkorea abgelöst. Weltweit arbeiten neben dem in Frankreich sechs solcher Kraftwerke in Russland, China, Kanada und Südkorea.

Gezeitenturbine – Energie durch Ebbe und Flut

Eine weitere Technologie zur Nutzung des Tidenhubes in Küstennähe ist die Gezeitenturbine. Ein- und ausströmendes Wasser versetzen Rotoren in Bewegung und erzeugen Energie. Die in Strom umgewandelte Energie wird mittels Unterwasserkabel an ein Umspannwerk geleitet. Von dort wird der Strom in das dortige Stromnetz eingespeist.

Vor Schottland wurde Mitte 2021 die weltweit leistungsstärkste Gezeitenturbine per Unterwasserkabel an das lokale Stromnetz angeschlossen. Die Anlage ist 74 Meter lang und 680 Tonnen schwer. Daran befestigt sind zwei jeweils ein Megawatt starke Stromerzeugungsgondeln. Momentan ist sie im „Fall of Warness“ verankert, einem Testzentrum des European Marine Energy Centre (EMEC). Künftig soll es vor der Insel betrieben werden. Die Offshore-Anlage namens „O2“ produziert zwei Megawatt elektrische Energie und soll rund 2.000 Haushalte versorgen.

Das Projekt „Orbital O2“ wurde unter anderem vom europäischen Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 finanziert.


Gezeitenturbine: O2 Orbital (3D-Animation)

Mit „O2 Oribtal“ wurde 2021 die leistungsstärkste schwimmende Gezeitenturbine in Betrieb genommen. Sie liegt vor Schottland im Wasser und erzeugt eine Leistung von zwei Megawatt – das entspricht einer Energiemenge, um 2.000 britische Haushalte mit Strom versorgen zu können. Zwei einzelne Turbinen nutzen hierfür die Wasserbewegungen der Ozeane aus und arbeiten bei Ebbe als auch bei Flut.

Quelle: Orbital Marine Power Ltd / youtube.com


Prinzip der Wellenenergie

Prinzip der Wellenenergie

| NEMOS GmbH

Wellenkraftwerke – Energie aus Wellenbewegungen

Anders als Tidenhub-Kraftwerke nutzen Wellenkraftwerke die Meeresenergie, die durch Auf-und-Ab-Bewegungen der Wellen entsteht. Hierbei kommen unterschiedliche Funktionsprinzipien zum Einsatz, beispielsweise die Nutzung ein- und ausströmender Luft in einer pneumatischen Kammer, durch Wellen angeregten Bewegung von Auftriebs- oder Schwimmkörpern oder die Energie auflaufender Wellen auf eine Rampe.

„Wave Energy Converter“ (WEC) schwimmen fest auf dem Meeresboden verankert in Küstennähe. Auftriebs- oder Schwimmkörpern oder pneumatischen Kammern sind mit Generatoren verbunden, die die Energie umwandeln. Das weltweit größte Kraftwerk dieser Art erzeugt seit 2011 mit 16 Wells-Turbinen eine Leistung von 300 Kilowatt in der Hafenstadt Mutriku in Nordspanien. Die Turbinen sind in die Hafenmauer integriert. Die Stromausbeute ist geringer als anfangs gehofft. Das Kraftwerk versorgt im Durchschnitt lediglich 250 Haushalte mit Strom.

Seit 2019 wird allerdings in der belgischen Nordsee vor Ostende ein groß-skaliertes Wellenkraftwerk-Gesamtsystem getestet. Geplant ist ein Kraftwerkspark aus mindestens 16 Einzelanlagen, die eine Leistung in Megawattgröße erbringen sollen.

Darstellung von Wellenturbinen am Meeresboden
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Meeresströmungskraftwerke – Energie aus Meeresströmungen

Die Gewinnung von Strom aus der Meeresströmung funktioniert ähnlich der einer Windkraftanlage: Der Rotor einer am Meeresboden installierten Turbine treibt einen Generator an und erzeugt dadurch Strom. Da Wasser rund 800-mal dichter ist als Wind, bringt es auch bei langsameren Fließgeschwindigkeiten enorme Kraft auf. Alternativ kann die Meerströmungsturbine auch kabelgebunden am Meeresboden befestigt sein und freischwimmend Energie gewinnen.

Zwischen dem schottischen Festland und den Orkney-Inseln produzieren im bisher größten gebauten Meeresströmungskraftwerk „MeyGen“ seit 2016 drei Turbinen mit jeweils 1,5 Megawatt Leistung bereits Strom.

Die Strömungsgeschwindigkeit in der Meeresenge liegt durch die Gezeiten bei nur 13 Stundenkilometern. Die an den Rotoren wirkenden Kräfte entsprechen aber etwa einem Orkanwind mit 350 Stundenkilometern. Zukünftig ist geplant, dass „MeyGen“ mit 80 Turbinen rund 86 Megawatt Leistung erzielen soll.

Darstellung des Meeresspiegels aus einer Unterwasserperspektive
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Kraftwerke mit Salz- und thermischen Gradienten

Ozeanthermische Gradienten-Kraftwerke (en: Ocean Thermal Energy Conversion, OTEC) nutzen die großen Unterschiede der Wassertemperatur zur Stromerzeugung. In den äquatornahen Meeren kann die Temperaturdifferenz zwischen dem warmen Oberflächenwasser und kalten Tiefenwasser in 1.000 Metern Tiefe bis zu 20-25 Grad Celsius betragen. Mithilfe von Wärmekraftmaschinen lässt sich dieser natürliche „Energiespeicher“ anzapfen und zur Stromproduktion verwenden.

In Keahole Point (Hawaii) wird ein Meereswärmekraftwerk mit einer Kapazität von 105 Kilowatt betrieben, das 120 Haushalte versorgen kann. Für die Zukunft sind Projekte geplant, mit denen die Versorgung von 100.000 Haushalten für einen Strompreis von 20 Cent pro Kilowattstunde möglich werden soll.

Demgegenüber nimmt sich die Ausbeute von Osmose-Kraftwerken, in denen das Gefälle des Salzgehalts von Süßwasser und Meerwasser genutzt wird, noch bescheiden aus. Die vom weltweit ersten Kleinstkraftwerk im norwegischen Tofte am Oslofjord erzeugten 4 Kilowattstunden reichen gerade zum Teekochen.


Aufnahme unter Wasser Richtung Wasseroberfläche
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Meeresenergietechnik: Zertifizierung stärkt das Vertrauen in Kraftwerke und deren Bestandteile

Unser Planet ist zu über 70 Prozent mit Wasser bedeckt. Wind, Gezeiten und Meeresströmungen machen die Meere zu einem nimmermüden Energiepaket. Meeresenergie könnte auf diese Weise erheblich zum globalen Energiemix beitragen.

Mit IEC TS 62600-4 liegt seit kurzem ein Dokument vor, das die Anforderungen an den Technologie-Qualifizierungsprozess für marine erneuerbare Technologien beschreibt.

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Globaler Wettbewerb treibt die Forschung

Insbesondere das Missverhältnis von wissenschaftlich berechnetem Potenzial der Meeresenergie und der bisher erzielten Ausbeute führt zu unterschiedlichen Sichtweisen im Hinblick auf das tatsächliche Potential führt. Aber der internationale Wettlauf um die innovativsten Lösungen für die Nutzung der Meeresenergie treibt Unternehmen und Forschende an. Beispiele dafür gibt es rund um den Erdball.

Das weltweit größte Gezeitenkraftwerk in Südkorea mit 254 Megawatt gilt es zu überflügeln. Oder auch das Gezeitenkraftwerk FORCE 1 im kanadischen Berth Holders, das Ende 2022 rund 1,26 Megawatt leisten und einen jährlichen Nettoertrag von 4.915 MWh Strom erzeugen soll. Die Komponenten dafür kommen unter anderem aus Deutschland.

In Deutschland sind die Aussichten auf eine ertragreiche Nutzung von Meeresenergie aufgrund der geographischen Gegebenheiten eher gering. Die Nordsee ist zu flach, die Strömungen nicht stark genug. Aber die deutsche Forschung auf diesem Gebiet zählt zur Weltspitze. Forschungseinrichtungen, Unternehmen aus Deutschland und nicht zuletzt die internationale Normung unter Mitwirkung des DKE Spiegelgremiums GK 385 arbeiten an zahlreichen Projekten weltweit mit.

Normung schafft Vertrauen in neue Meeresenergietechnologien

Norm IEC 62600

Norm IEC 62600

| DKE

Die Entwicklung von Kraftwerken für die Nutzung von Meeresenergie schreitet aber voran. Sie werden immer größer und effizienter.

Um den künftigen Erfolgskurs der Meeresenergiegewinnung zu begleiten und die technische Sicherheit im Entwicklungsprozess zu gewährleisten, arbeitet das Technische Komitee IEC/TC 114 (DKE/GK 385) weiter an der Normenreihe IEC 62600. Im Zentrum steht die Vorbereitung internationaler Standards für Meeresenergieumwandlungssysteme. Schwerpunkt ist die Umwandlung von Wellen-, Gezeiten- und anderer Wasserstromenergie in elektrische Energie. Thematisch befasst sich das Gremium auch mit weiteren Umwandlungsmethoden, -systemen und -produkten.

Die von IEC/TC 114 erstellten Normen und Technischen Spezifikationen reichen von Systemdefinitionen, Managementplänen und Leistungsmessungen von Wellen-, Gezeiten- und Wasserstrom-Energiewandlern über die Bereitstellung, den Betrieb und die Wartung von Meeresenergieanlagen bis zu Tests und Messmethoden. Jedoch haben innovative Kraftwerke neuartige Entwicklungen und Konzepte hervorgebracht, die nicht mit bestehenden technischen Richtlinien und Regeln oder internationalen Codes und Normen zertifizierbar sind. Aus diesem Grund arbeitet IEC/TC 114 fortlaufend daran, die Normenreihe IEC 62600 an aktuelle Entwicklungen im Bereich des Meeresenergietechnik anzupassen.

Mitte 2021 wurde deshalb ein neuer Teil von IEC 62600 herausgegeben, der Unterstützung bei der Beurteilung neuartiger Technologien bietet. Dieser neue Teil, IEC TS-62600-4, beschreibt den Zertifizierungsprozess von Meeresenergie-Technologien durch technische Qualifizierung.

Die Technische Spezifikation (TS) unterstützt bei der Ermittlung der am stärksten von technischen Risiken oder Unwägbarkeiten betroffenen Bestandteile einer solchen Technologie und legt angemessene Qualifizierungsmaßnahmen zur Bewältigung dieser Risiken fest. Auf diese Weise bildet sie ein Sprungbrett für die Zertifizierung von Produkten für die Meeresenergie.


Zwei Gezeitenwasserturbinen
breedfoto / stock.adobe.com

Große Fortschritte bei der Normung im Bereich der Meeresenergie

Unser Planet ist zu über 70 Prozent mit Wasser bedeckt. Das damit verbundene und immense Potenzial können wir uns zunutze machen, um Energie zu erzeugen.

Das Online-Magazin e-Tech von IEC sprach mit Jonathan Colby, Vorsitzender von IEC/TC 114, über die großen Herausforderungen im vergangenen Jahr sowie den zukünftigen Fokus der Normung im Bereich der Meeresenergie.

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Fazit: Entwicklung der Meeresenergie liegt etwa 20 Jahre hinter Windkraft

Gleichwohl alle Projekte vielversprechend sind, gibt es immer wieder Rückschläge. Viele Unternehmen gaben ihre Anlagen wieder auf. Aber mit jedem Projekt bekommen die Forscher*innen viele technische Probleme immer besser in den Griff. Dennoch konnte sich außer den Gezeitenkraftwerken in Flussmündungen bisher kein ökonomisch tragfähiges Konzept im industriellen Maßstab durchsetzen.

Fakt ist: Aktuell liegt die Meeresenergie im Hinblick auf die Entwicklung noch weit hinter der Entwicklung von Windenergie zurück. Es wird noch einige Jahre brauchen bis die beide Technologien auf einem ähnlich ausgeprägten Stand befinden werden. Allerdings, und das ist ebenfalls ein wichtiger Punkt, spielen auch die Strompreise eine wichtige Rolle: je höher diese steigen, umso eher rechnet sich die Energiegewinnung aus den Meeren.

Redaktioneller Hinweis:

Die im Text aufgeführten Normen können Sie im VDE VERLAG erwerben.

Zum VDE VERLAG

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