Mensch virtuell am Stuhl
Ivan - stock.adobe.com
01.07.2024 Fachinformation

Weg frei für geschlechtergerechte Normen

Welche Auswirkungen kann inklusives Design auf das reale Leben haben. Sofia Scataglini ist Expertin für digitale Modellierung und Simulation von Menschen und erläutert im Interview anhand von Beispielen, wie Crashtest-Dummys und Wearables, die Bedeutung inklusiver und geschlechtergerechter Normung.

Ein Artikel von Priyanka Dasgupta für IEC e-Tech.

Kontakt
Alena Widder
Verwandte VDE Themen

Das erwartet Sie in diesem Artikel:

  • Warum es geschlechtergerechte Normen braucht.
  • Wo die Normung geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigen sollte.
  • Wie der Normungsprozess inklusiver gestaltet werden kann.

Studien belegen, dass Frauen bei einem Autounfall einem bis zu 37 Prozent höheren Verletzungsrisiko und einem höheren Sterberisiko ausgesetzt sind. Die Sicherheitsstandards in Fahrzeugen sind in den letzten Jahren immer weiter verbessert worden, also wieso existiert ein derartiges Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern? Ein wichtiger Hinweis könnte die Tatsache sein, dass erst im Jahr 2023 zum ersten Mal ein Crashtest-Dummy dem weiblichen Körper nachempfunden wurde.

Das zeigt, dass die Entwicklung inklusiver Normen unser Leben sicherer und effizienter machen kann. Um mehr darüber zu erfahren, hat das Online-Magazin IEC e-Tech mit Professorin Sofia Scataglini, Biomedical Engineer und ausgewiesene Expertin im Bereich Digital Human Modelling and Simulation, gesprochen.

Scataglini engagiert sich für die Normung durch ihre Arbeit auf nationaler (NBN, Belgien), europäischer (CENELEC) und internationaler Ebene (ISO und IEC) in den Bereichen Ergonomie, tragbare elektronische Geräte, intelligente Textilien, persönliche Schutzausrüstung und Kleidung. Sie ist Inhaberin des europäischen Berufszertifikats „European Ergonomist“ und Vorsitzende des technischen Komitees für Digital Human Modeling and Simulation der International Ergonomics Association (IEA).

Vor dem Hintergrund der Arbeit an ihrem neuen Buch zu Human-Centred Design für eine bessere Gesundheitsversorgung sprach Sofia Scataglini über die Bedeutung inklusiver und geschlechtergerechter Normung.

Interview mit Sofia Scataglini

e-Tech: Wieso braucht es geschlechtergerechte Normen?

Scataglini: Bisher basiert das Design der meisten Produkte und Technologien auf der Nutzung anthropometrischer (die Lehre der Ermittlung und Anwendung der Maße des menschlichen Körpers) Datenbanken, in denen Frauen häufig nicht vertreten sind. Geschlechtergerechte Normen helfen, die Dinge zum Besseren zu verändern. Sie stellen sicher, dass bei Produkten und Dienstleistungen, die auf den Markt kommen, seien es Fahrzeuge, persönliche Schutzausrüstung oder Medizingeräte, darauf geachtet wurde, dass ihre Sicherheitsstandards sämtlichen ihrer Nutzer*innen Rechnung tragen.

Nehmen wir zum Beispiel Crashtest-Dummys. Es ist das erste Mal, dass ein Crashtest-Dummy einem weiblichen Körper nachempfunden wurde. Das bedeutet in erster Linie, dass über all die Jahre die Sicherheitsparameter für Autos basierend auf Tests mit männlichen Crashtest-Dummys festgelegt wurden. Auch wenn Autohersteller in der Vergangenheit eine kleinere Version des männlichen Dummys genutzt haben, um Frauen Rechnung zu tragen, handelte es sich nach wie vor nur um eine verkleinerte Version des männlichen Dummys, die den physiologischen Unterschieden und den Körpermerkmalen von Frauen nicht hinreichend Rechnung trägt, was in der Realität zu einem höheren Verletzungsrisiko für Frauen bei Unfällen führt.

Es gibt oft auch eine implizite Voreingenommenheit bei der Entwicklung von Normen für verschiedene Geräte und Produkte. Inklusive Normen sind ein Schritt hin zu Gleichstellung.


Interview Diversität in der Normung - Teamwork Menschenkette
Interview zu Diversität in der Normung | REDPIXEL / stock.adobe.com & Yaruniv-Studio / stock.adobe.com

Wie eine inklusive Normung zu einer gerechteren Welt beitragen kann

Was bedeutet eigentlich Diversität? Warum kann geschlechtergerechte Normung Leben retten kann? Und wie kann Sprache Bewusstsein erzeugen? Im Vorfeld zum DKE Innovation Campus 2024 haben wir Antonia Borsutzky und Batuhan Ayaz diese und weitere Fragen gestellt. Im Interview geben sie uns einen Einblick in ihren Berufsalltag, der davon geprägt ist, andere Menschen zu begeistern und mitzunehmen, aber auch, eigene Ängste und Sorgen zu überwinden.

Mehr erfahren

e-Tech: Gibt es bestimmte Bereiche, in denen die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte ein besonderer Fokus der Normung sein sollte?

Scataglini: Ein gutes Beispiel ist vielleicht das Design von Fahrzeugen und Sitzen. Vor kurzem habe ich gemeinsam mit Prof. Mac Reynolds eine Abhandlung veröffentlicht, die die Auswirkungen der Rückenhaltung auf die Sitzposition beim Fahren anhand von digitalen Modellen des Menschen untersucht.

Wir haben festgestellt, dass Fahrer*innen ganz verschiedene Rückenhaltungen einnehmen, die die Sitzposition beeinflussen. Designstandards von Sitzen und Sicherheitsteststandards gehen davon aus, dass Fahrer*innen so sitzen, dass der Rücken komplett unterstützt wird. Tests und Analysen zeigen jedoch, dass dies für kleine Frauen nicht zutrifft, sodass ihr Rücken beim Fahren nicht unterstützt wird. Die Studie hat gezeigt, dass mehr als 35 Prozent der Frauen zum Fahren den Sitz so einstellen, dass ihre Sicherheit nicht mehr gegeben ist. Aus Gründen der Bequemlichkeit, Ergonomie und Sicherheit sind Änderungen beim Design von Fahrzeugen und Sitzen in Bezug auf die verschiedenen Rückenhaltungen notwendig. Normen spielen eine wichtige Rolle, um die Durchsetzung solcher Änderungen zu fördern.

Ein weiteres Beispiel sind tragbare Technologien, sog. Wearables. Intelligente Kleidung trägt den unterschiedlichen Körperformen von Frauen häufig nicht Rechnung. Geschlechtergerechte Normung wäre hier sicherlich hilfreich. Bildgebende Geräte in der Medizin sind ebenfalls ein wichtiger Bereich, in dem es Normen braucht, die die weibliche Anthropometrie und die ganze Vielfalt in Bezug auf den Körperbau, und nicht nur durchschnittliche Maße, berücksichtigen.

Ältere Nutzer*innen tun sich eventuell schwer damit, neue Technologien zu verstehen bzw. damit umzugehen, deshalb muss das Design auf ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse zugeschnitten werden. Beim Design von Geräten wie mobilen Gesundheitsapps, Technologien im Bereich des Internets der Dinge (IoT) oder Assistenzrobotern sind die Nutzbarkeit und Zugänglichkeit für die vorgesehenen Nutzer*innen wichtig.

Inklusives Design, das dazu beiträgt, die Diversität der Nutzer*innen, einschließlich Menschen mit Behinderungen oder unterschiedlichen körperlichen Veranlagungen, zu berücksichtigen, ist wichtig, damit Technologien für sämtliche vorgesehenen Nutzer*innen zugänglich, praktisch und sicher sind.

e-Tech: Wie können Normen dazu beitragen, dass das Design inklusiver wird?

Scataglini: Geschlechtergerechte Normen, die Anforderungen festlegen, die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gerecht werden, können Hersteller zu inklusiverem Design veranlassen. Durch die Bereitstellung von Leitlinien bzw. Rahmen können sie zudem den Austausch von Daten, die von unterschiedlichen Gruppen erhoben werden, erleichtern. So können sie die Entwicklung individueller Ansätze in der Gesundheitsversorgung unterstützen, beispielsweise durch 4D-Technologien, wie dynamische Ganzkörperscans, die für eine individuelle und präzise medizinische Versorgung genutzt werden.

Ein weiteres Beispiel, IEC/TC 124, konzentriert sich auf die Normung tragbarer elektronischer Geräte. Normen müssen einer Vielzahl unterschiedlicher Körpergrößen-/formen, nicht nur schlankem/durchschnittlichem Körperbau, gerecht werden. Dazu gehören auch Faktoren wie starkes Übergewicht. Bei intelligenter Sportbekleidung für Frauen wird beispielsweise nicht genügend auf unterschiedliche Körperformen geachtet bzw. es gibt smarte Shirts, bei deren Design häufig nicht einmal so grundsätzliche Dinge wie die Brüste berücksichtigt werden.

Geschlechtergerechte Normen für tragbare Technologien, wie intelligente Kleidung, fördern Inklusion. Letztendlich sind Normen ein sehr wirksames Instrument, um einen Markt mit effizienteren Produkten zu fördern, die den Bedürfnissen sämtlicher Bevölkerungsgruppen, inklusive Frauen, und Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen Rechnung tragen.

e-Tech: Welche Herausforderungen gilt es hierbei zu meistern?

Scataglini: Das Fehlen von Daten zu unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen macht es schwierig, Normen festzulegen. Das heißt auch, dass es schwierig ist, etablierte Verfahren hinsichtlich des Designs basierend auf begrenzten/durchschnittlichen Spezifikationen zu ändern.

Und dann kommt noch die Schwierigkeit hinzu, umfassende anthropometrische Daten von verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu erfassen. Aber es braucht Veränderungen, daran gibt es nichts zu rütteln. Wir werden inklusiver, langsam, aber sicher.


DKE Newsletter-Seitenbild
sdx15 / stock.adobe.com

Mit unserem DKE Newsletter sind Sie immer top informiert! Monatlich ...

  • fassen wir die wichtigsten Entwicklungen in der Normung kurz zusammen
  • berichten wir über aktuelle Arbeitsergebnisse, Publikationen und Entwürfe
  • informieren wir Sie bereits frühzeitig über zukünftige Veranstaltungen
Ich möchte den DKE Newsletter erhalten!

e-Tech: Was kann getan werden, um den Normungsprozess selbst inklusiver zu gestalten?

Scataglini: Wir sehen bereits eine höhere Beteiligung von Frauen in den technischen Komitees, sowohl bei der Normungsarbeit selbst als auch in Führungspositionen. Aber wir haben noch einen langen Weg vor uns.

Bei der IEC arbeitet die Kampagne Women at IEC daran, den Gendergap in den kommenden Jahren zu überwinden. Die internationale Normung muss mehr Aktivitäten und Initiativen fördern.

In Bezug auf geschlechtergerechte Normen ist es notwendig, nicht nur Frauen darin zu bestärken, sich in dem Bereich zu engagieren, sondern es muss auch ein stärkerer Fokus auf Studien zu weiblichen und anderen unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen gelegt werden.

Da die Gleichstellung der Geschlechter eines der zentralen Themen ist, welches die Bevölkerung betrifft, würde ich gerne dazu beitragen, Frauen in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Kunst und Technologie (MINKT) zu fördern. Aus diesem Grund habe ich auch die Gruppe Digital Human Modelling by Women (DHMW) gegründet, die sich dafür einsetzt, Frauen in MINKT und Studien zu Frauen zu fördern, um den Gendergap im Bereich der Daten und Forschung durch die Nutzung digitaler Modellierung von Menschen zu überwinden.

Natürlich muss noch viel getan werden, um geschlechtergerechte Normen anwendungsübergreifend zu entwickeln und zu integrieren. Aber ich freue mich darauf, den Weg für Veränderungen zu ebnen.


Relevante News und Hinweise zu Normen