Vor knapp fünf Jahren erwähnte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil zu „James Elliott“ (C-613/14) beiläufig, dass harmonisierte Europäische Normen „Teil des Unionsrechts“ seien, ohne zugleich mögliche Konsequenzen zu beschreiben. In der Folge wurde auf dieser Grundlage von einzelnen Klägern kostenfreier Zugang zu harmonisierten Europäischen Normen gefordert, da im europäischen Rechtsraum Gesetze grundsätzlich frei einsehbar sein müssen.
Ein solcher Fall wird aktuell am Europäischen Gerichtshof verhandelt (Rechtssache C-588/21 P – auch bekannt als „Malamud-Fall“). Am 22. Juni 2023 hat nun die Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof, Frau Laila Medina, ihre Schlussanträge in diesem Fall veröffentlicht. Das finale Urteil des Europäischen Gerichtshofs liegt noch nicht vor. Schlussanträge für den Europäischen Gerichtshof sind nicht bindend, geben in der Regel aber eine Richtung für das Urteil vor. In den veröffentlichten Schlussanträgen sind Argumente enthalten und Rechtsfolgen beschrieben, die das Potential haben, sich negativ auf das bisher so erfolgreiche europäische Normungssystem auszuwirken.
Die Erarbeitung Europäischer Normen findet auf europäischer Ebene unter dem Dach der Normungsorganisationen CEN, CENELEC und ETSI statt. Die Inhalte der Normen werden durch Expert*innen aus Wirtschaft, Wissenschaft, öffentlicher Hand und Zivilgesellschaft erarbeitet, die von den nationalen Normungsorganisationen wie zum Beispiel DIN und DKE entsendet werden. DIN und DKE sind als Selbstverwaltungsorgan der deutschen Wirtschaft organisiert, sodass die notwendige Expertise bei der Erarbeitung von Normen unmittelbar durch die interessierten Kreise eingebracht werden kann und politische Zielstellungen nur als eine von vielen Meinungen in den Prozess einfließen. Die hohe Expertise der Fachleute und die breite Beteiligung aller Stakeholder sind der Schlüssel für die hohe Akzeptanz und das breite Vertrauen von Gesellschaft und Wirtschaft in Normen. In der europäischen Normung sorgen die Anwender durch den Kauf von Normen dafür, dass diese effiziente, privatwirtschaftliche Organisation der Normungsarbeit erhalten bleibt. Die Kosten für die Erarbeitung werden also auf die Anwender verteilt, die durch die Anwendung einen Nutzen aus Normen ziehen.