- Was bedeutet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz?
- Was wird unter „brauchbarer Illegalität“ verstanden?
- Darf Geld bei Sicherheit tatsächlich keine Rolle spielen?
- Was besagt der römische Rechtsgrundsatz „neminem laedere“?
Eine Frage der Abwägung: Konformitätsbewertung zwischen Recht, Wirtschaftlichkeit und Technik
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt auch bei Sicherheitsforderungen des Staates
DKE: Herr Wilrich, Sie befassen sich mit den Grundsätzen, die bei der Integration von Sicherheit in ein Produkt zu beachten sind. Welche sind das?
Wilrich: Diese Grundsätze sind die Basis für die wichtigsten Überlegungen, die ein Hersteller anstellen muss. Sie stehen beispielhaft zusammengefasst in der Europäischen Maschinenrichtlinie, demnächst Maschinenverordnung, aber auch in technischen Normen.
Sie umfassen die sichere Konstruktion, also inhärente Sicherheit, die vor Schutzmaßnahmen gegen nicht zu beseitigende Gefahren geht, die wiederum vor Warnhinweise oder Persönliche Schutzausrüstung geht. Im Arbeitsschutz nennt man das sehr griffig den TOP-Grundsatz: Technik geht vor Organisation geht vor Persönlichen Schutzmaßnahmen. Es ist also keine Aufzählung, sondern eine Werthierarchie.
Generell ist in der Risikobeurteilung die höherwertige Schutzmaßnahme in Betracht zu ziehen und nicht zu leicht auf weniger gute Maßnahmen mit weniger Sicherheit zurückzufallen. Der Grundsatz gilt aber auch nicht absolut, sondern er unterliegt einer Abwägung. Dabei ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten, denn der Staat darf nicht zu viel fordern, auch nicht im Bereich der Sicherheit. Es geht also nicht nur um die Frage, wie viel Sicherheit nötig ist, sondern auch darum, wie viel Sicherheit wir verkraften.
Rechtliche Risiken von Verwaltungsakt bis Schadensersatz
DKE: Und welche Risiken gibt es, die solche Abwägungen notwendig machen?
Wilrich: Der Jurist denkt in erster Linie nicht an die technischen Risiken, sondern an die juristischen. Gruppe eins sind öffentlich-rechtliche, verwaltungsrechtliche Risiken. Im Ernstfall kommen Behörden ins Haus, ergreifen Überwachungsmaßnahmen und verfügen in Verwaltungsakten Anforderungen, die ein Hersteller erfüllen muss. Gruppe zwei sind privat- und zivilrechtliche Risiken, es gibt also einen Geschädigten, der Schmerzensgeld oder Schadensersatz fordert. Gruppe drei sind strafrechtliche Risiken, wobei es um Personenschäden geht und in letzter Konsequenz um die Frage, ob jemand wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung zu belangen ist.
Konformitätsbewertung: Freier Warenfluss weltweit
Der Begriff „Konformitätsbewertung“ (engl. „Conformity Assessment“) ist weitläufig bekannt, in vielen Fällen jedoch nicht greifbar. Im Wesentlichen sorgt Konformitätsbewertung für einen freien Warenfluss innerhalb eines oder auch zwischen verschiedenen Märkten der Welt. Zur Bewertung von Produkten, Verfahren und Dienstleistungen gelten sowohl nationale Gesetze als auch internationale Richtlinien und Verordnungen. Unser Fachbeitrag zur Konformitätsbewertung fasst die wichtigsten Aspekte zusammen und gibt Antworten auf häufig gestellte Fragen.
Brauchbare Illegalität versus 100 Prozent Sicherheit
DKE: Eine Frage in die Runde: Wie kann ich als Hersteller angesichts solcher Risiken ein Produkt erfolgreich in den Markt einzuführen? Welche Rolle spielt die Konformitätsbewertung dabei, wenn ich international unterwegs bin?
Puppan: Wenn ich als Hersteller ein Produkt bereitstelle, muss ich die Risiken im Umgang mit dem Produkt vor Einführung des Produkts bewerten, nicht erst danach. Wie wir von Thomas Wilrich gehört haben, ist die Frage, welches Maß an Sicherheit wir verkraften können, nicht absolut zu beantworten, sondern eine Abwägungsentscheidung auf Basis des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
Ich glaube, man kann vor Produkteinführung einen Prozess umsetzen, der eine optimale Sicherheit eines Produkts ermöglicht. Die Konformitätsbewertung ist dabei auf internationalem Level die Grundvoraussetzung für Bewegung und damit für Warenverkehr, da sie überprüfbar macht, ob Normen in einem Normennutzungsprozess Anwendung gefunden haben.
Wilrich: Das Recht stellt Anforderungen an die Produktsicherheit, es stellt keine Anforderungen an die Ergreifung von Chancen am Markt. Ganzheitlich kann also ein Jurist, der bekanntlich Bedenkenträger ist, die Frage nach einer erfolgreichen Markteinführung nicht beantworten.
Wenn aber in einem Ernstfall, sprich Unfall, die Abwägungsentscheidung eine Rolle spielt, dann geht es aus der ganzheitlichen Perspektive auch um die Abwägung der Produktsicherheit mit dem gesellschaftlichen Nutzen, den ein Produkt hat. Da kommt die juristische Wertung ins Spiel, ansonsten haben wir als Juristen mit Chancen nichts zu tun.
Voit: Den Ball kann ich aufnehmen, denn der Betriebswirt schaut sich Risiken und Chancen an. Gesetzliche Regelungen sind immer das Must have, der Pain Point für ein Unternehmen. Ich komme aus der Bilanzierung, und auch Bilanzen oder Buchhaltung werden nur als Kostenfaktor gesehen, der nichts bringt. Das stimmt natürlich nicht, denn Jahresabschlüsse werden veröffentlicht und darauf basierend wird der Unternehmenswert gemessen, woraus sich das Interesse von Investoren ergibt.
Dieses Beispiel zeigt gut die gesamte Prozesskette auf, die eine Rolle spielt, und so ist auch das Thema Konformität zu betrachten. Ich verstehe die betriebswirtschaftliche Sicht als Klammer zwischen der Ebene der technischen Risiken, der juristischen Risiken und dem Unternehmensinteresse am wirtschaftlichen Erfolg. Die letzten 20 Prozent zu den vollen 100 Prozent Sicherheit verursachen immer den größten Aufwand, das ist das Pareto-Prinzip. Also ist zu prüfen, wie viel mehr Sicherheit ich noch brauche, um nahe an die 100 Prozent zu kommen.
Auch hier bietet sich der Vergleich mit der Bilanzierung an, denn ich kenne kein Unternehmen, das alle gesetzlichen Anforderungen zu 100 Prozent umgesetzt hat. Das, was nicht umgesetzt ist, ist entweder unwesentlich im Effekt, unwahrscheinlich oder man ist dagegen versichert.
Wilrich: In der Soziologie nennt man dieses Phänomen „brauchbare Illegalität“. Jedes Unternehmen wird bestimmte Vorschriften bewusst nicht einhalten, um unternehmerische Ziele zu erreichen. Das wird auch im Produktbereich so sein – was rechtlich gesehen aber nicht zulässig ist.
Voit: Ein Produkt, das zu 100 Prozent sicher, aber zu teuer und somit unverkäuflich ist, bringt dem Unternehmen allerdings nichts.
Wilrich: Der Jurist wäre aber begeistert.
Voit: Der Jurist wäre begeistert, aber in dem Fall bringt es auch dem Kunden nichts, da er kein Produkt erwerben kann. Das ist die Abwägung zwischen Sicherheit und den Chancen, der Marktgängigkeit des Produkts.
Geld darf bei Sicherheit keine Rolle spielen. Wirklich?
DKE: Provokant gefragt, darf Geld bei Sicherheit denn eine Rolle spielen?
Wilrich: Es ist ein großer Mythos im Produktsicherheitsrecht, dass Geld keine Rolle spielt. Der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz ist anerkanntermaßen ein Abwägungselement beim Stand der Technik. Trotzdem gibt es den Spruch, Geld darf bei Sicherheit keine Rolle spielen. Dieser Spruch ist, so absolut formuliert, schlichtweg falsch. Wenn das der Fall wäre, könnten wir 90 Prozent von Deutschland schließen, weil es doch besser geht.
Wir können vielleicht den Spruch retten, indem wir sagen, es soll zum Ausdruck kommen, dass Geld nicht plump eine Rolle spielen soll. Denn wir sind uns einig, dass es schwierig ist, bei Fragen von Leben und Gesundheit mit Wirtschaftlichkeit zu kommen. Es ist aber ein Abwägungsgrundsatz, der nicht einfach zu bewerten ist.
Voit: Ergänzend dazu, ist das Thema Sicherheit kein statisches, da es immer den Stand der Technik voraussetzt. Das ist etwas Dynamisches. Selbst wenn ich heute 100 Prozent sicher wäre, bin ich es morgen im Zweifel nicht mehr, weil der Stand der Technik ein anderer ist und noch mehr möglich ist. Es kann daher nur eine Abwägung sein, weil es ein bewegliches Ziel ist, das da verfolgt wird. Man wird nie fertig sein, weil der technische Stand oder die Rechtsprechung sich ändert.
Wilrich: Man kann vielleicht noch hinzufügen, bewegliches Ziel unter vielen Gesichtspunkten, auch mit Blick auf gesellschaftliche Wertungen zum Beispiel. Vor 50 Jahren hat es niemanden interessiert, ob man angeschnallt war, das ist heute anders.
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Auf Controlling-Ebene existiert mehr Blindflug als Wissen
DKE: Frau Voit, wenn man Konformität und Sicherheit als bewegliches Ziel sieht – wie kann man als Betriebswirt mit den verschiedenen Informationsebenen umgehen und Entscheidungen treffen?
Voit: Für mich steckt darin eine zentrale Herausforderung, denn die technischen Vorschriften sind komplex und detailliert. Daher sind sie auf Controlling- und Management-Ebene nicht bekannt beziehungsweise nicht transparent, nicht in der Detailtiefe. An der Stelle geht also viel verloren an Verständnis dafür, was an Risiko enthalten ist.
Wir brauchen somit auf Controlling-Ebene mehr Know-how, um die Risikoeinschätzung besser betreiben zu können und langfristig tragbare Entscheidungen zu treffen. Momentan ist das häufig mehr Blindflug als Wissen – und es ist Zufall, dass nichts passiert ist.
Explodierende Kaffeemaschinen oder langfristiges Vertrauen
DKE: Können Sie die unterschiedlichen Strategien hinter diesen Entscheidungsprozessen an einem Beispiel aufzeigen?
Voit: Nehmen wir als Beispiel eine Kaffeemaschine. Ich kann mir heute als Endkunde auf einer großen Plattform für Billigprodukte eine Kaffeemaschine kaufen, die keine CE-Kennzeichnung trägt. Ich bekomme sie geliefert und sie funktioniert hoffentlich eine Weile.
Irgendwann fliegt mir meine Kaffeemaschine aber um die Ohren und ich weiß nicht, ob meine private Haftpflichtversicherung den Schaden übernimmt. Ich bin als Kunde sicherlich unzufrieden. Der Hersteller hat am Ende eine Million Kaffeemaschinen verkauft, was betriebswirtschaftlich gesehen kurzfristig ein Erfolg ist. Ob er ein Jahr später nach mehreren negativen Vorfällen immer noch erfolgreich am Markt ist, ist mit dieser Strategie zweitrangig.
Will der Hersteller aber nachhaltig als Unternehmen erfolgreich sein, dann wird er sich an geltende Sicherheitsvorschriften halten, damit der Endkunde sicher ist und die nächste Kaffeemaschine wieder bei ihm kauft. Das ist die unternehmerische Entscheidung für einen mittel- bis langfristigen Erfolg am Markt.
Wenn ich sage, ein Unternehmen möchte technische und juristische Risiken vermeiden und auf Sicherheit hinarbeiten, setze ich voraus, dass es langfristig strategisch am Markt sein will und sich so verhält. Es ist teilweise eine philosophische Frage, was der Unternehmenszweck und -hintergund eigentlich ist. Daran hängt der gesamte Umgang des Unternehmens mit gesetzlichen Vorgaben und die Antwort auf die Frage, wie compliant es sein will. Bei unserer Diskussion wird immer unterstellt, dass ein Unternehmen nach Compliance strebt, aber das ist nicht immer so.
Neminem laedere: 2000 Jahre alt, immer noch aktuell
DKE: Herr Wilrich, die neue EU-Produktsicherheitsverordnung geht mit der Verpflichtung zur Risikoanalyse und Dokumentation noch einen Schritt weiter. Was bedeutet das?
Wilrich: Man muss sagen, dass das für viele Produkte gar nicht neu ist. Nämlich für all diejenigen, die bereits unter europäisches Produktsicherheitsrecht fallen, also die EU-Harmonisierungsrechtsvorschriften. Das war bereits für Maschinen und viele Elektroprodukte der Fall. Neu an der Ende 2024 in Kraft tretenden Produktsicherheitsverordnung ist als Formalität, dass sie zur Durchführung und Dokumentation der Risikobewertung für alle Verbraucherprodukte verpflichtet.
Aus ganzheitlicher Perspektive ist aber auch das nicht neu. Die Rechtsprechung schreibt seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten vor, dass Hersteller darüber nachzudenken haben, wie ein Produkt ausreichend sicher wird, damit niemand zu Schaden kommt. Wenn man so will, ist die Thematik sogar über 2000 Jahre alt, denn bereits der römische Rechtsgrundsatz neminem laedere, niemandem schaden, handelt davon.
Puppan: Ich stimme Dir voll zu, aber mit der Produktsicherheitsverordnung kommt für mich noch etwas weiteres ins Spiel. Die sogenannten EU-Harmonisierungsrechtsvorschriften, mit anderen Worten die CE-Kennzeichnung, sind für viele Produkte bereits abschließend geregelt. Im Rahmen der Circular Economy wird es allerdings einen großen Bereich geben, in dem wir Ressourcen schonen wollen, Stichwort „Green Deal“ und dergleichen. Deshalb geben wir zum Beispiel Produkten eine weitaus längere Lebensdauer, als es der Hersteller vielleicht ursprünglich festgelegt hat.
Diejenigen Produkte aber, die aus der CE-Kennzeichnung kommen und über den Handel einen zweiten Nutzungsfrühling erleben, also nicht wesentlich verändert wurden, fallen definitiv in den Bereich der Produktsicherheitsverordnung. Damit ist ein Personenkreis angesprochen, der Händler, Refurbisher oder ähnlich heißt und sich bislang nicht klar darüber war, dass er in der Verantwortung steht, eine Risikoanalyse, eine Dokumentation zu erstellen. Dieses Bewusstsein müssen wir schaffen, denn an den Grundsatz neminem laedere wird sich kein Händler halten, wenn er nichts davon weiß.
Redaktioneller Hinweis:
Hier endet die zweite Gesprächsrunde zum Thema Konformitätsbewertung. In Teil 3 (ab 21.11.) besprechen wir, welche konkreten Tipps Stefanie Voit, Prof. Dr. Thomas Wilrich und Raymond Puppan haben und wie sie die Zukunft der Konformitätsbewertung einschätzen.