Zahnräder greifen ineinander

CA-Interview zu Recht, Technik und Wirtschaft

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21.11.2024 Fachinformation

Eine Frage des Wissens: Konformitätsbewertung zwischen Recht, Wirtschaftlichkeit und Technik

Um in ein Produkt Sicherheit so zu implementieren, dass Risiken jeglicher Art möglichst minimiert sind und ein Erfolg am Markt möglich wird, braucht es technisches, juristisches und betriebswirtschaftliches Know-how. Wie dieses Spannungsfeld für Unternehmen zu managen ist, und warum wir alle viel mehr Wissen brauchen?

Diese und weitere Fragen diskutieren wir mit WP, StB, Diplombetriebswirtin Stefanie Voit, Rechtsanwalt und Professor an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München Dr. Thomas Wilrich und Dipl.-Ing. FH Raymond Puppan.

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Raymond Puppan

Das erwartet Sie in diesem Artikel:

  • Normen unterstützen Wirtschaftsakteure beim Einhalten von Gesetzen.
  • Aufwandsminimierung durch vier IEC-Konformitätsbewertungssysteme.
  • Die Geschichte des Lüfters von Kaprun und die Reichweite eines Produkts.
  • Der Blick in die Glaskugel: Die künftige Bedeutung von Konformitätsbewertung.

Chancenanalyse statt Risikoanalyse

DKE: Herr Puppan, welchen Stellenwert haben Normen bei der Integration von Sicherheit in Produkte und bei der Risikovermeidung?

Puppan: Wir haben über Verhältnismäßigkeit gesprochen, darüber, Chancen zu analysieren – dieser Gedanke von Stefanie Voit hat mir sehr gut gefallen. Würde in den einschlägigen Rechtsvorschriften Chancenanalyse statt Risikoanalyse stehen, würden die Menschen mehr auf das Gesetz zugehen statt umgekehrt. Ich spreche grundsätzlich nie von Risikovermeidung, weil ich als Mensch schon selbst ein Risiko für andere bin. Ich bin täglich aber auch vielen Risiken ausgesetzt, und die Frage ist, wieviel Risiko verträgt man.

Das zu bewerten, fällt nicht leicht, wenn man keine passenden Werkzeuge in der Hand hat. Wenn wir die Frage stellen, was Normen beitragen, so haben sie aus meiner Sicht einen beträchtlichen Stellenwert, weil sie ein technisches Umsetzungsfundament darstellen. Sie beantworten im Prozess, also bei der Integration von Sicherheit, immer die Frage nach dem „Wie“. Wie kann ich an die Sache herangehen, um die Anforderung des „Was“ aus der Rechtsvorgabe umzusetzen. Normen haben als Sicherheitsmaßstab somit auch eine rechtliche Bedeutung und unterstützen Wirtschaftsakteure bei der Erfüllung.

Konformitätsbewertungssysteme als Aufwandsminimierung

DKE: Mit IECEE, IECQ, IECRE und IECEX gibt es vier internationale Konformitätsbewertungssysteme, die Hersteller bei der Konformitätsbewertung unterstützen. Wo sehen Sie den größten Nutzen dieser Systeme?

Puppan: Das ist ganz einfach. Der größte Nutzen dieser Systeme liegt in der enormen Aufwandsminimierung, um einen Weltmarkt zu öffnen. Warum? Alle vier Systeme eint, dass sie auf der ganzen Welt gegenseitig anzuerkennende Prüfergebnisse und Zertifikate liefern. Das heißt, einmal geprüft, weltweit akzeptiert. Das reduziert für Hersteller den Aufwand signifikant, weil sie sich lediglich einmal mit der Bewertung ihres Produkts befassen müssen. Man sucht als Hersteller den Zertifizierer seines Vertrauens auf, der in diesen Systemen anerkannt ist, und erhält ein Welt-Zertifikat, das in den USA, in Indien gilt, in Schweden, überall.

Noch stärker konkretisieren kann man das, wenn man nicht nur auf das Produkt schaut. Dahinter liegen in der Zertifizierung Anforderungen, dass auch die Produktionsstätten des Herstellers regelmäßig zu auditieren sind. Wird nach den immer gleichen Bedingungen produziert, damit die Qualität immer gleich ist?

In der Vergangenheit musste aus jedem Markt, aus jedem Land ein Auditor eingeflogen werden, um die Produktionsstätte zu auditieren. Zwanzig Märkte bedeuteten also zwanzig Audits, was ein hoher zeitlicher und finanzieller Aufwand ist. Durch die Konformitätsbewertungssysteme kommt nur ein Auditor, der der Welt mitteilt, dass die Produktionsstätte den Anforderungen entspricht und das Zertifikat seine Gültigkeit behält.

Voit: Das ist ein großer prozessualer Faktor. Bei jedem Audit werden interne Ressourcen gebunden. Wenn ich das minimieren kann und interne Ressourcen weniger an Audits, dafür mehr an umsatzrelevanten Themen arbeiten, dann habe ich betriebswirtschaftlich einen Vorteil daraus.


Containerfrachtschiff im Ozean
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Konformitätsbewertung: Freier Warenfluss weltweit

Der Begriff „Konformitätsbewertung“ (engl. „Conformity Assessment“) ist weitläufig bekannt, in vielen Fällen jedoch nicht greifbar. Im Wesentlichen sorgt Konformitätsbewertung für einen freien Warenfluss innerhalb eines oder auch zwischen verschiedenen Märkten der Welt. Zur Bewertung von Produkten, Verfahren und Dienstleistungen gelten sowohl nationale Gesetze als auch internationale Richtlinien und Verordnungen. Unser Fachbeitrag zur Konformitätsbewertung fasst die wichtigsten Aspekte zusammen und gibt Antworten auf häufig gestellte Fragen.

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Der Lüfter von Kaprun und die Reichweite eines Produkts

DKE: Angenommen, Sie müssten ein Unternehmen beraten, das vor der Entwicklung einer völlig neuen Produktlinie steht. Was wäre aus Ihrer Sicht der ideale Weg in puncto Konformitätsbewertung?

Wilrich: In der Frühphase der Produktentwicklung und -planung ist ein Aspekt juristisch extrem wichtig, nämlich die Festlegung der Grenzen des Produkts. Im Maschinenrecht heißt es ausdrücklich, dass die Konformitätsbewertung und die Risikobeurteilung mit der Festlegung der Grenzen der Maschine beginnen.

Eine kluge Begrenzung der Maschine ist eine kluge Begrenzung der Haftungsrisiken, und dabei muss man über vier Dinge nachdenken: sachliche, persönliche, zeitliche und örtliche Nutzungsgrenzen des Produkts. Die muss ich bei der Produktentwicklung im Auge behalten, in seriöser und realistischer Abwägung mit dem Produktzweck.

Kein Fall verdeutlicht das besser als der Fall des Lüfters von Kaprun. In der Gletscherbahn am Kitzsteinhorn in Österreich hat es im Berg angefangen zu brennen, an einem Lüfter und es sind 155 Menschen verstorben. Es gab in Österreich ein Strafverfahren gegen eine zweistellige Anzahl von Verantwortlichen des Betreibers und anderer Hersteller. Alle sind vom Landesgericht Salzburg freigesprochen worden, und im Urteil steht mehrfach, dass der Lüfterhersteller schuld sei, der in Deutschland sitzt.

Die Staatsanwaltschaft Heilbronn hat daraufhin ein Verfahren gegen vier Produktverantwortliche eingeleitet beim Lüfterhersteller. Doch das Verfahren wurde eingestellt mit dem Argument, dass der Lüfter für den Haushalt konstruiert, produziert und vertrieben worden war. Außerdem hatte der Hersteller explizit formuliert, der Lüfter sei nicht geeignet für die Verwendung in Zügen.

Wer mit diesem Fall nicht versteht, wie unfassbar wichtig die Bestimmung der Reichweite eines Produkts ist, der wird es nie verstehen. Es ist völlig legal, einen Lüfter nur für den Hausgebrauch herzustellen. Auch der Verkauf war legal. Wenn die Reichweite des Produkts sauber bestimmt ist, dann haben Nutzer sich daran zu halten.

Puppan: Ich möchte ergänzen, dass es zur Festlegung von Grenzen gehört, als Hersteller mit dem Kunden sauber zu kommunizieren, der eine gewisse Vorstellung vom Produkt hat. Es ist wichtig festzulegen, ob ein Serienprodukt für den Markt hergestellt wird, ein abgewandeltes Serienprodukt mit Kundenwunschanteil oder ein Sonderprodukt. Darauf müssen technischer Vertrieb und Produktplanung fokussieren.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist der Lieferantenbereich, wo es genaue Abstimmungen zu Erwartungshaltung und Grenzen braucht. Aus dem Gesamtbild ergibt sich die Definition dessen, was Thomas Wilrich beschrieben hat. Ein dritter Aspekt ist die Erkenntnis, dass klare Anforderungen an Risikoanalyse und -bewertung den Hersteller schützen. Dahinter steht eine Aufwandsbewertung, was im Rahmen der definierten Grenzen an Sicherheit, Leistungsfähigkeit, Funktionstauglichkeit in das Produkt hineinentwickelt werden kann.

Voit: Das ist die gängige Praxis, dass die Risikobetrachtung die Grenzen des Produkts im Blick hat. Ich würde Hersteller zudem dahingehend sensibilisieren, in alternativen Umsetzungsmaßnahmen zu denken und in Richtung Risiko, Kosten und Chance abzuwägen. Das heißt, auch bei der Maßnahmenplanung sollten  betriebswirtschaftliche Aspekte mit betrachtet werden und man sollte alternative Maßnahmen zur Zielerreichung betriebswirtschaftlich abwägen.

Denn das Unternehmensziel Compliance oder Konformität kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden, und der Hersteller sollte für sich den sachgerechtesten Weg auswählen. Wenn die Herstellungskosten stärker steigen als der Sicherheitsgewinn, dann ist das nicht unbedingt sinnvoll. Oder wenn beim Kunden nur ein Preis von x EUR für mein Produkt durchsetzbar ist und damit keine Marge mehr erwirtschaftet wird, dann steht die Unternehmenszukunft infrage. Das muss betriebswirtschaftlich alles durchdacht werden.


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Das Recht spielt nicht überall eine herausragende Rolle

DKE: Zum Schluss noch ein Blick in die Glaskugel: Die wirtschaftliche und politische Entwicklung ist derzeit weltweit mindestens unübersichtlich. Wie wirkt sich diese Gemengelage auf die Bedeutung der Konformitätsbewertung in Zukunft aus?

Wilrich: In Deutschland und Europa, von Anfang an als Raum des Rechts bezeichnet, spielt das Recht eine herausragende Rolle. Das ist in anderen Ländern nicht so sehr der Fall, da spielen andere gesellschaftliche, religiöse oder traditionelle Wertungen eine Rolle.

Ich wünsche mir nicht, ich befürchte auch nicht wirklich, aber ich halte es angesichts der aktuellen Lage für möglich, dass bei uns die rechtlichen Belange und die Sicherheitsbelange auch im Bereich des Produktsicherheitsrechts in den Hintergrund geraten werden – jedenfalls, was den Vollzug angeht.

Puppan: Wissensmanagement ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Stichwort für mich. Dem muss viel mehr Bedeutung geschenkt werden, denn die unübersichtliche Gemengelage hat einen Hintergrund. Normalerweise sagt man, schau nicht in die Vergangenheit, die ist vorbei, die Zukunft kannst du nicht vorhersagen, bleib in der Gegenwart. Um in der Gegenwart existieren zu können, muss man aber aus der Vergangenheit gelernt haben und das Wissen übertragen.

Man sieht, dass da ein Gap vorhanden ist, der allgegenwärtig ist. Die Konformitätsbewertung kann aus meiner Sicht in Zukunft nur dann an Bedeutung gewinnen, wenn wir das wirklich wollen und bereit sind zu lernen.

Voit: Ich formuliere die Frage etwas um und möchte abschließend gerne festhalten, was ich mir wünsche. Die Welt ist komplex, wie Thomas Wilrich und Raymond Puppan schon zum Ausdruck gebracht haben. Ich brauche daher unbedingt verschiedene Perspektiven, um ein Thema bewerten zu können. Ich befürchte zwar, das ist weit in die Zukunft gedacht, aber mein größter Wunsch wäre, dass man diese mehrdimensionale Sicht viel stärker schult.

DKE: Vielen Dank in die Runde für das spannende Gespräch.


Redaktioneller Hinweis:

Hier endet die dritte und letzte Gesprächsrunde zum Thema Konformitätsbewertung. Sie haben Teil 1 und 2 verpasst? Dann erfahren Sie mehr über die Motivation unserer Experten, sich mit Konformitätsbewertung zu befassen (Teil 1), und darüber, was zweitausend Jahre alter ein römischer Rechtsgrundsatz damit zu tun hat (Teil 2).

Wir bedanken uns für dieses Interview bei

Portraitfoto Stefanie Voit

Stefanie Voit

Wirtschaftsprüferin, Steuerberaterin und Diplombetriebswirtin, TS advisory

Portraitfoto Stefanie Voit

Wirtschaftsprüferin, Steuerberaterin und Diplombetriebswirtin, TS advisory

Portraitfoto Thomas Wilrich

RA Prof. Dr. Thomas Wilrich

Professor an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen, Hochschule München

Rechtsanwalt u. a. für Produktsicherheit, Produkthaftung, Arbeits-, Technik- und Umweltrecht

Portraitfoto Thomas Wilrich

Professor an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen, Hochschule München

Rechtsanwalt u. a. für Produktsicherheit, Produkthaftung, Arbeits-, Technik- und Umweltrecht

Raymond Puppan - Portrait

Dipl.-Ing. FH Raymond Puppan

Principal Expert Conformity Assessment und Projektmanager Digitalisierung, DKE

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Principal Expert Conformity Assessment und Projektmanager Digitalisierung, DKE


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